Die Krise der ständigen Beschleunigung
Viele Organisationen laufen heute auf Hochtouren, um ihre alten Strukturen und Arbeitsweisen aufrechtzuerhalten. Aussagen wie „Wir müssen noch einen Zahn zulegen“ oder „Wir erkennen unsere Führungskraft nicht wieder“ sind Ausdruck einer Überforderung, die der Soziologe Hartmut Rosa als „rasenden Stillstand“ (2022: 53) beschreibt: Trotz ständiger Beschleunigung kommen wir nicht wirklich voran. Diese permanente Anspannung führt zu Überlastung, Entfremdung und in extremen Fällen sogar zu existenziellen Risiken für die Organisation.
Von VUCA zu BANI: Eine Welt am Limit
Die gängigen Beschreibungen unserer Zeit – VUCA (Volatilität, Unsicherheit, Komplexität, Ambiguität) – reichen nicht mehr aus, um die tiefgreifende Brüchigkeit und Unverständlichkeit der heutigen Welt einzufangen. Das Akronym BANI (Brittle, Anxious, Non-Linear, Incomprehensible) bringt auf den Punkt, dass unsere Systeme schnell an ihre Grenzen stoßen. Sowohl auf globaler als auch auf organisationaler Ebene erleben wir instabile Strukturen, die uns vor grundlegende Fragen stellen: Wie reagieren wir auf eine Welt, in der Bewährtes brüchig und Ungewissheit allgegenwärtig ist?
Seit Mitte des 20. Jahrhunderts zeigt die „Große Beschleunigung“ (Steffen et al. 2015), dass stetiges Wachstum an physische und soziale Grenzen stößt. Die „Grenzen des Wachstums“ sind längst Realität: Wir haben mehrere planetare Grenzen überschritten, ohne die notwendigen Lehren daraus zu ziehen. Doch dieselben Mechanismen wirken auch in Organisationen, wenn wir versuchen, durch immer mehr Aufwand alte Muster zu retten, statt zukunftsfähige Strukturen zu schaffen.
Wachstum durch „Faltung“: Diversität statt Quantität
Nachhaltige Entwicklung muss nicht immer „schneller, höher, weiter“ bedeuten. Anders Levermann beschreibt in „Die Faltung der Welt“ (2023), wie aus dem Akzeptieren harter Grenzen neue, vielfältigere und flexiblere Möglichkeiten entstehen. Dieses „gefaltete“ Wachstum ist kein quantitativer, sondern ein qualitativer Sprung: Wir nutzen Bestehendes intelligenter, um uns trotz begrenzter Räume freier zu bewegen.
Während Innovation als Begriff in Organisation allgegenwärtig ist, bleibt Exnovation (stellvetretend Heyen 2016, David 2017) – das gezielte Aufgeben veralteter Praktiken – oft im Schatten. Dabei kann gerade der bewusste Verzicht auf Altlasten neue Spielräume eröffnen. Exnovation setzt Mut voraus: Wir müssen erkanntes, aber unproduktives Handeln loslassen, um Raum für wirklich tragfähige Lösungen zu schaffen.Das Weglassen fällt uns aus mehreren Gründen schwer, die tief in unserer Psychologie verwurzelt sind. Zum einen neigen wir dazu, Probleme eher durch das Hinzufügen von Elementen zu lösen, anstatt bestehende Dinge wegzulassen oder zu reduzieren – ein Phänomen, das als subtraction bias bekannt ist. Gleichzeitig beeinflusst uns die sunk cost fallacy, also die psychologische Schwierigkeit, uns von bereits investierten Ressourcen wie Zeit, Geld oder Mühe zu lösen. Diese Bindung an das Vergangene führt dazu, dass wir oft an Dingen festhalten, selbst wenn sie uns nicht mehr nützen. Ergänzend dazu wirkt der omission bias, der uns dazu verleitet, passiv zu bleiben und Entscheidungen zu vermeiden, die aktives Handeln erfordern. Gemeinsam führen diese Mechanismen dazu, dass das Reduzieren, Streichen oder Aufgeben von etwas häufig als schwieriger empfunden wird als das Beibehalten oder Hinzufügen – selbst dann, wenn Letzteres nicht die optimale Lösung darstellt. Doch genau hier bietet Exnovation einen Ausweg – indem wir Ballast abwerfen, anstatt Ressourcen in aussichtlose Vorhaben zu investieren.
Ein Paradigmenwechsel im Denken und Handeln
Exnovation fordert einen Wechsel der Perspektive. Anstatt blind Effizienzsteigerung und Beschleunigung zu folgen, sollten Organisationen innehalten und sich fragen: Welche Routinen und Prozesse sind wirklich hilfreich? Welche kosten nur Kraft, ohne Wert zu schaffen? Dieser Perspektivwechsel setzt voraus, alte Glaubenssätze zu hinterfragen und Abschied von vermeintlichen Selbstverständlichkeiten zu nehmen.
Hilfreich ist hier das Ecocycle-Modell aus dem Methoden-Kanon der Liberating Structures. Dabei handelt es sich um ein von der Ökologie abgeleitetes Konzept, das Geschäftsprozesse wie natürliche Kreisläufe betrachtet: von der Entstehung über Wachstum und Reife bis zum Niedergang und der Freisetzung von Ressourcen für Neues. Regelmäßige Standortbestimmungen helfen festzustellen, in welcher Phase sich Projekte oder Prozesse befinden. So lässt sich gezielt entscheiden, wann Altlasten auszumustern sind, um Raum für Innovation zu schaffen.
Loslassen für echte Veränderung
Veränderung beginnt nicht nur damit, Neues hinzuzufügen, sondern oft damit, Altes loszulassen. In einer Welt, die von Unsicherheit und Zerbrechlichkeit geprägt ist, ist Exnovation ein Schlüssel, um Raum für nachhaltige Lösungen zu schaffen. Wer den Mut hat, bewährte, aber nicht mehr sinnvolle Praktiken aufzugeben, kann den „rasenden Stillstand“ überwinden. So entstehen echte Fortschritte, die nicht auf beschleunigtes Weglaufen, sondern auf reflektiertes Innehalten und bewusste Neuausrichtung setzen.
Autor
Yannik Fleer
ist Soziologe und begleitet als systemischer Organisationsberater und Coach zahlreiche Organisationen in Transformationsprozessen.
Er ist Geschäftsführer der WIBK GmbH und Lehrbeauftragter an der Universität zu Köln.
Literatur
- David, M. (2017). Fundamente von Exnovations-Governance im Transformationsdiskurs. Metropolis-Verlag.
- Heyen, D. A. (2016). Exnovation: Herausforderungen und politische Gestaltungsansätze für den Ausstieg aus nicht-nachhaltigen Strukturen. Öko-Institut e.V.
- Levermann, A. (2023). Die Faltung der Welt: Wie die Wissenschaft helfen kann, dem Wachstumsdilemma und der Klimakrise zu entkommen. Ullstein Buchverlage.
- Rockström, J., Steffen, W., Noone, K., Persson, Å., Chapin III, F. S., Lambin, E. F., … & Foley, J. A. (2009). A safe operating space for humanity. Nature, 461(7263), 472–475. https://doi.org/10.1038/461472a
- Rosa, H. (2005). Beschleunigung: Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne. Suhrkamp.
- Rosa, H. (2022). Beschleunigung und Entfremdung. 9. Auflage. Suhrkamp
- Steffen, W., Broadgate, W., Deutsch, L., Gaffney, O., & Ludwig, C. (2015). The trajectory of the Anthropocene: The Great Acceleration. The Anthropocene Review, 2(1), 81–98. https://doi.org/10.1177/2053019614564785